Die Todesfälle von Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret

Lynchmord an Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret in Merseburg am 12. August 1979

Ein Gastbeitrag von Dr. Harry Waibel zur Verfügung gestellt von der Mobilen Opfer Beratung.

Am Samstag, den 11. August 1979, kam es im Stadtgebiet Merseburg gegen 23.30 Uhr nach einer Tanzveranstaltung in der Konsumgaststätte „Saaletal“ zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen vier Ungarn, vier Kubanern und 10 bis 12 Deutschen, die danach Richtung Stadtmitte zogen. Vor dem Kaufhaus in der Leninstraße bemerkten sie einen zufällig vorbeikommenden Kubaner, den sie grundlos niederschlugen. Von dort zog der Mob weiter zur Marienstraße: Im Bereich der Straßenbahnhaltestelle trafen die Männer zufällig auf zwei Kubaner, die sie ebenfalls niederschlugen. Dieses Geschehen wurde von mehreren abseits stehenden Kubaner beobachtet, die ihren Landsleuten zu Hilfe kamen. Dadurch kam es im Bereich der Haltestellen Allendeplatz und Bahnhofstraße zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen von beiden Seiten „Steine und Flaschen“ geworfen wurden. 

Die Kubaner zogen sich dann in ihr Wohnheim in der Straße des Friedens Nr. 68 zurück und beschlossen, am nächsten Tag einen „Racheakt“ in der Gaststätte „Saaletal“ durchzuführen.[1] Gegen drei Deutsche – sie sollen an den Angriffen am 11. August 1979 beteiligt gewesen sein – wurden Ermittlungsverfahren gemäß § 115 vorsätzliche Körperverletzung StGB eingeleitet und weitere Ermittlungen gegen weitere mutmaßliche Täter wurden geführt.[2]

Rassistische Gewalt über 48 Stunden 

Am Sonntag, den 12. August 1979, kam es am frühen Abend in der Gaststätte „Saaletal“, in deren Saal sich zu diesem Zeitpunkt etwa 230 Deutsche aufhielten, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als sechs bis zehn Kubaner in den Saal stürmten und mit Ledergürteln, Holzstöcken und Kabelenden auf die Anwesenden einschlugen. Unmittelbar danach flüchteten die Kubaner aus dem Gebäude, vor dem etwa 30 weitere Kubaner standen, die die heraus stürmenden Deutschen mit „faustgroßen Steinen“ bewarfen. Daraufhin bewarfen die „Veranstaltungsgäste“ die Kubaner mit „Weinflaschen“[3] und die Kubaner flüchteten in Richtung Saalebrücke, um von dort das Zentrum von Merseburg zu erreichen. Sieben oder acht Kubaner flüchteten entlang des Flussufers, verfolgt von etwa 30 bis 40 Deutschen. Da ihnen von Deutschen, die auf der Brücke standen, dieser Weg versperrt wurde, sprangen sie in die Saale. Mehrere Deutsche die auf der Brücke und am Ufer standen, bewarfen schwimmende Kubaner mit „Weinflaschen“ und „Ziegelsteinen“. Eine am Ufer stehende Deutsche sagte bei ihrer Vernehmung bei der DVP aus, dass sie eine leere Flasche auf einen schwimmenden Kubaner geworfen und den Kopf eines Flüchtlings getroffen hätte. Ihrer Meinung nach habe der Treffer bei dem Kubaner „Wirkung“ gezeigt: Er „geriet zeitweilig unter Wasser“.[4] Als die Volkspolizei eintraf, war das Pogrom bereits beendet. 

In einer Information des Ministeriums des Inneren (MdI) wurde angekündigt, dass der kubanischen Botschaft ein „Abschlußbericht zu beiden unnatürlichen Todesfällen übergeben“ werde, „[…] ohne den Grad der Beteiligung einzelner Personen darzustellen“, womit eine detaillierte Kenntnis der Vorgänge in Merseburg verhindert werden sollte.[5]

Eine Information des MdI (14.08.1979) enthielt bereits verbindliche Weisungen über den weiteren Fortgang und zur Vertuschung der Umstände des Todes von Delfin Guerra (19) und Raul Garcia Paret (21): „Gegen die am Vorkommnis vom 12.08.1979 beteiligten DDR-Bürger werden keine Ermittlungsverfahren eingeleitet, da sich ihre Handlungen auf die Abwehr richteten und demzufolge Notwehr vorlag. Weitere Untersuchungen sollten durch die Abteilung Kriminalpolizei der BDVP Halle im Zusammenarbeit mit der zuständigen Dienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit geführt werden.“[6]

Die Behauptung einer „Notwehr“ der Deutschen ist falsch, da am Tag zuvor mehrere Kubaner von einem Mob in Merseburg überfallen und niedergeschlagen wurden. Insofern lässt sich die „Racheaktion“ der Kubaner vom 12. August 1979 als eine Form der Notwehr einer minoritären gesellschaftlichen Gruppe verstehen, auch unter dem besonderen Aspekt, dass sie bei gewalttätigen Auseinandersetzungen von den Sicherheitsorganen der DDR keinen oder kaum ausreichenden Schutz erhielten. Deshalb kamen sie zu dem Schluss, die rassistischen Angriffe vom 11. August 1979 mit einem „Racheakt“ zu beantworten.  

Eine Version der Begründung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt (Tgb.-Nr. 1833/79) findet sich in der abschließenden Entscheidung der BDVP Halle (27. August 1979): „Das am 12. 08. 1979 wegen Verdachts der Körperverletzung nach § 115 StGB [Vorsätzliche Körperverletzung, HW] eingeleitete Ermittlungsverfahren Tgb.-Nr. 1833/79 gegen Unbekannt wird nach § 141 Abs. 2 StPO eingestellt, da Art und Umfang der Mitwirkung bestimmter am Vorkommnis beteiligter Personen in der für die Durchführung eines Strafverfahrens notwendigen zweifelsfreien Weise nicht festgestellt werden kann“.[7]

Eine weitere Version der Begründung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt findet sich in einem internen Schreiben des MfS (16. Oktober 1979): Mit „Zustimmung des Genossen Borchert“ – Borchert war zuständiger Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes der DDR – wurde unter Berücksichtigung der „brüderlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Kuba entschieden, gegen die an dem Vorkommnis in Merseburg Beteiligten keine strafrechtlichen Maßnahmen einzuleiten und das Ermittlungsverfahren gegen UNBEKANNT einzustellen. Eine diesbezügliche Information an den Generalsekretär der SED und Vorsitzenden des Staatsrates, Gen. Honecker, erfolgte am 28.8.1979 durch das Ministerium des Innern.“[8]

Im Jahr 2016 sollte die Staatsanwaltschaft Halle auf Antrag der Familien der Getöteten juristisch klären, ob angesichts der nunmehr bekannt gewordenen Umstände der Einstellung des Ermittlungsverfahrens zur Aufklärung der Umstände des Todes der beiden in der Saale aufgefundenen Kubaner nunmehr zur Wiederaufnahme der Ermittlungen führen müsste, da Mord bzw. Totschlag nicht verjährt.


[1]BStU, MfS, ZAIG Nr. 5059, Bl. 1-6; BStU, MfS, ZAIG Nr. 20653, Bl. 43-47; Leonel R. Cala Fuentes: Kubaner im realen Paradies. Ausländer-Alltag in der DDR, Berlin 2007, S. 43-45; BArch DO 1/88248, MdI Ergänzung zur Information vom 14.08.1979.

[2] BArch, DO 1 / 88246, MdI Ergänzung zur Information vom 14.08.1979, S. 1f.

[3] BArch, DO 1 / 88246, MdI Information vom 14.08.1979, S. 1f.

[4] BArch, DP 3 4066, S. 12-14.

[5] BArch, DO 1 / 88246, MdI Information vom 14.08.1979, S. 3.

[6] BStU, MfS, HA IX 8576, Bl. 243; BArch, DO 1 / 88246, MdI Information vom 14.08.1979, S. 3.

[7] BArch, DP 3 4066.

[8] BStU, MfS, HA IX 8576, Bl. 124, Bl. 276.